Donnerstag, 7. Januar 2016

Vor meinem ehemaligen Wohnhaus, Bergen-Enkheim, Deutschland


Wer bewusst und wachen Auges durch sein Leben geht, sieht die unglaublichsten Dinge. Es muss etwas mit der früh erlernten Malbewegung zu tun haben, die aus zwei geschwungenen Bogen ein abgerundetes Symbol der Liebe formt, dass uns diese Umrisse, wo auch immer sie denn auftauchen, unmittelbar in ihren Bann ziehen. Dieses obskure Pilzgebilde entstand im ziemlich feuchten Oktober des letzten Jahres direkt im Eingangsbereich des Bungalows, den ich seit Februar bewohnt hatte. Die Villa, wie meine Schulfreundin das Haus, das ihre Eltern Ende der 60er Jahre von einem bekannten Architekten bauen liessen, gerne nennt, um sich ein wenig über den subtilen Dünkel des Anwesens lustig zu machen, ist an einen Hang gebaut und grenzt direkt an ein wunderbares Naturschutzgebiet mit Streuobstwiesen. Ich hatte das Haus am Hang von meinen nachmittäglichen Besuchen als Schüler in schönster Erinnerung, weil ich meiner Freundin immer ein "Gastgeschenk" mitbrachte, meistens eine Tafel Milka. Dann lasen wir gemeinsam in Goldmann Kriminalromanen, die wir beim Lesen mit amüsanten Anmerkungen versahen. Jedesmal, wenn der andere das Buch hatte, konnte man es kaum erwarten, die neuen Eintragungen zu lesen. Da sie zeichnerisch sehr talentiert war, machte sie zum Beispiel eine kleine Skizze davon, wie sie sich den Cocktail "Highballs" bildlich vorstellen würde. Aus dem hohen Glas sprangen tatsächlich zwei Bälle davon, zur Verwunderung des trinkenden Paars, das sich eben noch zugeprostet hatte. Bei meinen Besuchen traf ich ihren Vater immer im unteren Teil des loftartigen Wohnraums beim Lesen der Zeitung auf seinem Lieblingssessel an, von wo aus er mir freundlich winkte, mit einer Zigarette in der Hand, wenn ich mich richtig entsinne. Ihr Vater fuhr Jaguar, die Mutter ein weißes Peugeot-Cabriolet. Nach dem Abitur hatten wir uns ziemlich lange aus den Augen verloren, bis ich für einen befreundeten Fotografen ein modernes Haus suchen sollte, in dem man die eine oder andere Produktion bewerkstelligen konnte. Daraus wurde nichts, dafür zog ich einige Zeit später selbst in das Haus, weil ich inzwischen wieder in Frankfurt arbeitete. Erst nach dem Einzug fiel mir auf, wie dunkel es die meiste Zeit im Haus war und woran das lag: Der Architekt hatte nach der lichten Westseite im gesamten Erdgeschoss nur einen hauchdünnen Milchglasstreifen integriert und so das Tageslicht nach Zwölf Uhr Mittags weitestgehend verbannt. Zum Frühstück sass man zwar in strahlendem Sonnenschein, das Enkheimer Ried und Hangwiesen im Angesicht, dafür überkam einen später, am Nachmittag, stets eine traurige Schwere, die anhielt, bis es dunkel genug war, endlich die Lichter im Haus anzuschalten und so die unvorteilhafte bedrückende Schattenseite des Hauses so schnell wie möglich zu vergessen. Dass es der defekte Duschkopf einer Badewanne sein sollte, und somit eine mit Naturgewalt über das alte Haus hereinbrechende Feuchtigkeit, die meine Zeit in den Gemäuern der Vergangenheit jäh beendete, macht die metaphorische Bedeutung des Pilzherzens vor dem Gartentor noch komplexer. Die Aufnahme hatte ich unmittelbar vor einer Nordamerika-Reise meiner Familie gemacht, und ist, von heute aus gesehen, sozusagen der letzte Zeuge des unberührten Zustandes, in dem sich das Haus vor unserer Abreise befand. Die Nostalgie, für die jene natürliche Skulptur steht, ist letzten Endes der Motor all meines kreativen Schaffens.

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