Samstag, 9. Januar 2016

An der Wand, Montigny-sur-Avre, Normandie, France

Seit einem Spontankauf bei Chemins D'orient hängt bei mir in Frankreich ein merkwürdiger Papyrus an der Wand, der mir unentwegt Rätsel aufgibt. Zunächst einmal der Preis: 70 Euro. Wer nicht weiß, dass es sich bei dem Brocante am Rande der Haute Normandie um ein nahezu in Selbstaufopferung betriebenes Unternehmen zweier Bohemiens handelt, die, dem glücklichen Lächeln und den mit Blut unterlaufenen Augen nach zu schließen, tagein tagaus ordentlich dem Haschisch zusprechen, würde bei einem solchen Preis aufhören, über Herkunft, Authentizität und Wert nachzudenken. Da ich aber seit langer Zeit zu den Stammkunden der fröhlichen Gesellen gehöre und eigentlich bisher bei jedem Besuch ein Kleinod gekauft habe, hat die Höhe der Summe, die sie für das in Schwarzgold gerahmte Bild (aber ohne Glas) wollten, wenig mit der Evaluation des Stücks zu tun. Gerahmt wurde es in Paris, von der Handschrift auf der Rückseite zu schließen etwa Anfang der Fünfziger Jahre, was auch zum Stil des Rahmens passen würde. Die Echtheit des Materials steht für mich ausser Zweifel, auch wenn die von Naturfasern durchzogene Fläche am Boden (oben in dem auf das Motiv konzentrierten Ausschnitt nicht zu sehen) schwarz angeschimmelt ist und so eine eventuell vorhandene Signatur der unsachgemäßen Lagerung zum Opfer gefallen ist. Das Stück mutet archaisch an, ob es sich um eine Kopie handelt, die dem Kunstgeschmack des frühen zwanzigsten Jahrhunderts geschuldet ist, der sich nach Ursprünglichem und Exotischen verzehrte, kann ich nicht sagen, da die seither vergangene Zeit so an dem Papyrus genagt hat, dass man nicht mehr auf den ersten Blick sagen kann, ob das nun jenes vielbeschworene museum piece ist, nach dem jeder Sammler sein Leben lang sucht, oder einfach nur ein altes Stück Papier, das man geschickt präpariert hat. Am Ende spielt es auch gar keine Rolle, weil die viel wichtigere Frage die nach dem Inhalt ist. Da ist vor allem ein Baum mit Wurzeln und zwei blühenden Ästen zu sehen, darunter eine Art Schmetterling, ein Vogel und ein Stock, der sowohl Stock als auch Zauberstab sein könnte, in seiner Zuspitzung sogar ein Speer, mit dem man auf Jagd geht. Das ordnende Auge will sofort einen Zusammenhang herstellen, wegen der Gruppierung gar einen Kreislauf, der damit beginnen könnte, dass der Baum das Holz für den Speer spendet, mit dem wiederum die Jagd auf den Vogel ermöglicht wird, der sich wiederum seinerseits von dem Wurm bzw. der Larve ernährt, aus welcher der Schmetterling sich entpuppt, der zu den Blüten an den Ästen des Baums fliegt etcetera. Nur der Mensch, der den Speer fabriziert fehlt, er könnte aber dank seiner Aussparung auch eine subtile Metapher für den abwesenden Gestalter des Bildes sein, der uns diesen wunderbaren Kreislauf des Lebens auf Papyrus gezeichnet hat, mit wenigen einfachen, fast groben Strichen, die dafür aber umso ästhetischer in ihrer Reduktion das Wesentliche zu fassen verstehen. Die Nachricht, die uns der Künstler mit seiner Abwesenheit als geistigem Ausdruck der Handschrift senden will, ist so schlicht wie profund: Auf mich kommt es nicht an, sondern allein auf die erhabene Schönheit des Dargestellten. Nach so einem noblen Selbstverständnis kann man heute lange suchen.

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