Sonntag, 10. Januar 2016

Auf meinem Schreibtisch, Bergen-Enkheim, Deutschland


Inspiration ist überall. Aber nirgendwo sonst auf der Welt manifestiert sie sich in so konzentrierter Form wie in Japan. Jeder noch so kleine Alltagsgegenstand scheint durchdrungen von der höchsten Stufe der Subtilität, einem ästhetischen Selbstverständnis, das nur dann entsteht, wenn ein Ritual so oft exerziert wurde, dass beim Betrachter als bleibender Eindruck und Resultat der unermüdlichen Praxis eine nie zuvor gekannte Mühelosigkeit entsteht. Auf der Rückseite dieser wunderbaren Box mit Räucherstäbchen, die meine Mutter heute im hintersten Winkel einer Schublade ihres, wie sie es im Jargon der Zeit immer nennt, Sideboards gefunden hat, und die dort bestimmt seit den Siebziger Jahren unbeachtet lag, steht eine Aussage, die nur in Japan so formuliert werden konnte, natürlich für den internationalen Markt gedacht: "For a home with a gracious personality, nothing is more effective than 'Muse' incense." Allein, dass vom Heim selbst wie von einer Person gesprochen wird, zeigt den pantheistischen Zauber, der von diesem tollen Produkt ausgeht, wie die nahezu waagerecht ausströmenden Duftwolken, die aus dem grünen Sandelholzstab auf der Packung wie Föhnfische unter einer aus der orangenen Atmosphäre des Vordergrunds in das Bild aufsteigenden gelben Sonne dahin schwimmen. Dass es auch noch um den Begriff der Muse geht, kann ebenfalls kein Zufall sein. Denn wie die Box außerdem auf der Vorderseite verrät: Incense creates an elegant mood. Nichts ist für den schöpferischen Prozess wichtiger als eine elegante Stimmung, aus der, wie Nabokov beweist, noch immer die besten Werke entstanden sind. Aber der Text auf der Rückseite geht ja noch weiter: "It's mood fills the room with a sweet scent which becomes an integral part of the residence." Erneut, es geht allein um die Heimstätte, und inwiefern der Duft zu einem essentiellen Bestandteil ihres Wesens wird, davon erzählt dieser Satz. Effektiv wie die Räucherstäbchen auch nahezu fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung in den Fabrikhallen der Nippon Kodo Co. Ltd. am heutigen Nachmittag mein Arbeitszimmer mit einer Fülle des Wohlgeruchs bereicherten, sind sie ein Denkmal für sich selbst, das der Zeit standgehalten hat, ein Anachronismus der Haltbarkeit und, am Ende, wie sollte es anders sein, in Lettering und Farbwahl sogar ein Spiegel meiner Ausgabe des Standardwerks der japanischen Ästhetik, dem Wabi-Sabi  for Artists, Designers, Poets & Philosophers. Wobei in dem Untertitel, der sich so bescheiden an vier verschiedenen Berufsgruppen wendet, möglicherweise als Pointe versteckt ist, dass jeder gute Künstler, egal welcher Disziplin er angehört, idealiter alle in sich vereint: Jeder Künstler ist ein Gestalter, häufig Philosoph und immer auch Poet. Jedenfalls in Japan.

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