Dienstag, 12. Januar 2016

Hinter der AGIP-Tankstelle, Bergen-Enkheim, Deutschland


Landschaften, die man täglich zur selben Zeit sieht, gewinnen durch die Wiederholung eine nahezu hypnotische Qualität. Irgendwann verschwimmen Tage, Wochen und ganze Monate wie Jahreszeiten in einem Malstrom aus Eindrücken, in dem nur ganz besondere Ereignisse herausstechen und sich im Gedächtnis festsetzen. Die Tankstelle an der Vilbeler Landstraße auf dem Weg zur Berger Warte, die ich bequem zu Fuß erreichen kann, führt den besten Kaffee im Ort, so dass sie zum allmorgendlichen Fixpunkt meines Lebens geworden ist. Hinter dem Gastraum, direkt vor der Waschanlage, befindet sich eine kleine Sitzecke, in der man im Sommer in der Sonne auf die Reinigung seines Fahrzeugs warten kann. Von dort aus öffnet sich der Blick auf eine weite Wiese, die mal einer Schafherde als Weidegrund diente, dann wieder einen beträchtlich großen Schwarm Elstern beheimatete und in der Hitze des Juli auch von einem getreuen Pferdepaar zum Grasen auserwählt wurde. Vom Moment an, da ich das Paar zum ersten Mal erblickte, konnte ich die Augen nicht mehr von ihm lassen. Ich wußte nicht, was genau es war, das mich so faszinierte, machte aber innerhalb kürzester Zeit mit meinem iPhone so viele Aufnahmen, dass die schönsten Ausschnitte und Posen der eigentlich hintereinander, genauer gesagt nur einen Pferdekopf lang nebeneinander stehenden Tiere aus lauter Begeisterung mit dem wischenden Finger ins Videoformat verrutschten. Was man in der Abfolge der Bilder sieht, ist das Hin- und Herwedeln der Schweife, das Auf und Ab der Köpfe, die teils am Gras und teils am Fell des anderen knabberten und so ein bewegliches Stilleben der Eintracht und Symbiose darstellten. Das Motiv, das daraus entstand, verschränkt den braunen Hengst mit der beigen Stute zur Metapher einer Innigkeit, die selbstvergessen einfach nur die Anwesenheit des Anderen wohlwollend registriert und so ein rares Glück des Daseins zu bedeuten scheint. Wunschloses Glück, sozusagen, oder das Glück der Wunschlosigkeit, an keinem anderen Ort mit niemandem sonst sein zu wollen. Handkes Versuch über den geglückten Tag beschreibt in selten schöner Sprache die "Line of Beauty and Grace" aus einem Selbstportrait des Malers William Hogarth mit seinem Mops, die Peter Handke während des Durchfahrens einer Kurve mit einem Pariser Vorortzug bei Suresnes wiederzuerkennen glaubt. "An dem geglückten Tag werde ich rein sein Medium gewesen sein, mich von der Sonne habe bescheinen, vom Wind anwehen, vom Regen anregnen lassen, mein Zeitwort wird 'gewährenlassen' gewesen sein." Was bei Hölderlin im Gedicht An die Parzen noch im Satz "Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht" zusammengefasst ist, der den Sommer und den Herbst des reifen Gesanges am Ende beschließt, wenn ihm das "Heilige, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen" ist, also die Sehnsucht sich im geglückten Werk manifestiert und erfüllt hat, wird bei Handke zur beruhigenden Utopie einer sich selbst erzählenden Welt, die prinzipiell des Autors nicht mehr bedarf. Er wird zum Medium der Betrachtung einer Schöpfung, die sich als Narrativ ihre eigenen Schönheit verwirklicht. Die Pferde auf der Wiese sind für mich seit jenem Julimorgen die perfekte Entsprechung dieser Idee.

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