An der Küchenwand, Dantestrasse 3, Heidelberg, Deutschland
Der besondere Raum, den die Küche in unserem Leben einnimmt, hat nur auf den ersten Blick etwas mit den Notwendigkeiten zu tun, die mit der Ernährung einhergehen. Man könnte ja theoretisch auch einfach jeden Tag essen gehen, und so das Restaurant zur Ersatzküche machen, wie das Hotelzimmer für manche Schriftsteller, allen voran den weisen Vladimir Nabokov, zur Idealwohnung wurde. Wie befreiend muss es sein, ohne den ganzen persönlichen Ballast zu existieren, der sich über die Jahre in jedem Haushalt aus dem Nichts ansammelt, und so, ohne einen Finger zu rühren, die Konzentration auf das Wesentliche in absoluter Mühelosigkeit zu erreichen, einfach Kraft der Abwesenheit jeglicher Zerstreuung. In Ermangelung von Aufgaben wie Aufräumen oder Wäsche führe jeder Tagesablauf direkt an den Schreibtisch und zur anstehenden Arbeit in der Welt der Kunst und Phantasie, die Arno Schmidt in einem zweisprachigen Zitat einmal als die wahre bezeichnet hat: the rest is a nightmare. Und er hat Recht. Nur in Selbstvergessenheit heisst man die Pflicht, die, wie Max Frisch es einmal in einem anderen Zusammenhang nennt, "Forderungen des Tages", willkommen und vergisst darüber wohlwollend die Tatsache, dass selbst jede noch so kleine Kür einen Anlauf braucht, der nicht daraus besteht, dass man sich mal schnell en passant beim Wäsche aufhängen ein paar Gedanken macht und dann den Schreibbeginn doch wieder bis ins Unerträgliche hinaus zögert. Wie mein Lehrer Dr. Stefan Buck es nicht müde wird, bei jedem unserer Telefonate einzufordern: Nulla dies sine linea. Kein Tag ohne Linie (des zeichnenden Künstlers) bzw. Zeile (des schreibenden Dichters). So legt es Plinius der Ältere bekanntlich dem Maler Appeles in den Mund. Nur das tägliche Praktizieren hilft dem Künstler beim Überleben, regelmäßige Geistesexerzitien allein sind es, die ihn voranbringen. Als man Appeles fragte, warum er so lange an seinen Bildern male und immer wieder Korrekturen vornehme, ist von ihm folgende, fast schon lakonische Antwort, überliefert: ich male für die Ewigkeit. Eingedenk der Tatsache, dass Botticellis' Geburt der Venus angeblich direkt auf die Werke des altgriechischen Malers Bezug nimmt, eine durchaus nachvollziehbare Selbsteinschätzung. Was aber hat all das mit der Küche zu tun? So wie die Küche das Herz jeder Party ist, für die Ewigkeit fixiert in Jona Lewies Synthie-Hit von 1980 You'll always find me in the kitchen at parties, weil sich dort, vom Tanzzwang befreit, das kommunikative Potential einer Feierbekanntschaft voll entfalten kann und hier sämtliche Gäste auf der Suche nach Getränken oder Treibstoffen des Festes vorbeikommen müssen und so automatisch der Gesprächsstoff nie wirklich versiegt, stellt die Küche auch für den Künstler einen utopischen Raum dar, weil sie das Leben selbst repräsentiert, dessen Abbild zu schaffen er sich sehnt wie nichts sonst. In der großen Altbauküche einer Heidelberger Hausgemeinschaft, der angehören zu dürfen ich das Glück hatte, hing eine Küchenheilige über der Heizung neben dem Herd, die mir wie die Schutzpatronin dieses Phänomens erschien: Sie schält wohlfrisiert in einer Schürze, die sie über dem Twinset anbehalten hat, Kartoffeln in einen mit Prilblumen verzierten Topf. Hinter ihr leuchtet die Sonne der Küchenwelt, die keine Tages- oder Nachtzeit kennt, wie der Raum, den sie bescheint. Die Küche der Dantestrasse war das häusliche Äquivalent der Nachttankstelle, weil sich in ihr rund um die Uhr die unglaublichsten Geschichten ereigneten, Geschichten von Liebe und Verrat, Glanz und Elend, Rache und Glück, von denen wir noch heute, Jahrzehnte später, zu zehren im Stande sind, weil sich der Mensch nicht vom Brot allein ernähren kann, aber der nourriture der narration bedarf, um nicht geistig zu verhungern und darüber nahezu verrückt zu werden wie ein Held von Hamsun.
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