Mittwoch, 20. Januar 2016

Aus meinem Stammbaum, Bergen-Enkheim, Deutschland

Wir werden, was wir sind. Oder, anders gefasst, wir sind, wo wir herkommen. Abstammung, das weit verzweigte Gefüge eines Stammbaums als naturalistisches Abbild unserer Herkunft, ist im Grunde die unmissverständlichste Form der Herleitung, mit einem ausnahmsweise mal ganz unkomplizierten Dreisatz: Aus zwei Eltern wird ein Drittes, das Kind, und wenn das Kind dann später aufwächst und in das rebellische Alter kommt und sich umdreht und im Zorn zurück schaut, warum es denn bitte so ist wie es ist, oder warum das so sein muss, dann steht da einfach nur ein Diagramm, in dem zwei bis dahin getrennte Pfade sich vereinen und zwangsläufig in einen selbst münden, und das geht einfach so weiter und wird immer weiter nach oben hin. Mit jeder der einem vorangegangenen Generationen bekommt der Baum mehr Verästelungen, man ist dann vielleicht gerade noch Achtel Norweger oder hat etwas Preussen im Blut oder fühlt sich mit Recht ein wenig mehr norddeutsch als irgend etwas sonst. Immer vereint ein Neues zwei bis dahin getrennte Linien und bereitet die nächste Abzweigung vor. Aber wie heißt es so schön bei Blumfeld? Ich weiß gar nicht wie das gehen soll, sich vereinigen. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass sich so mancher der ewigen Wiederkunft des Gleichen (Nietzsche) verweigert und den nie persönlich unterzeichneten oder in Abwesenheit von einem anderen für uns geschlossenen Generationenvertrag einfach aufkündigt. Wie singt es Morrissey noch irgendwo? I am the end of the family line. Oder nehmen wir eine der berühmtesten Stellen der Literatur, in der Hanno Buddenbrook in der Familienchronik einen Strich unter seinen Namen setzt und auf Nachfrage seines entsetzten Vaters erklärt, "ich glaubte... es käme nichts mehr". Meine Großmutter hat mir schon früh von dem alten Bergener Geschlecht der Schelme erzählt und wie eine ihrer Vorfahren, eine Dorothea zu Schelm von Bergen, in direkter Linie von dem ersten Schelm abstammt, über den auch Heinrich Heine einst ein ganz hübsches Gedicht geschrieben hat, die Handlung aber dann sinnigerweise nach Düsseldorf verlegt hat, wo die uns am nächsten stehende Verwandte, Tante Anneliese, schon wohnt so lange ich denken kann. Warum Heine seine Ballade trotz des geographischen Winkelzugs "Schelm von Bergen" genannt hat, kann ich mir nicht erklären. Die Geschichte ist weitgehend bekannt: Der Scharfrichter mit zugehörigem Galgen vor Ort in der bis heute erhaltenen Berger Warte, ein immer noch gruseliger Ort, an dem wir unter anderem meine Kindergeburtstage zu feiern pflegten, begibt sich zum Maskenball an den Hof des Kaiser in Frankfurt. Heine beschreibt ihn als schlanken Fant, ein wunderbares Wort, und weil er so gut tanzt, so höfisch und behendig, tanzt die Frau des Kaisers, bei Heine ist es dann die des Herzogs im Schloss zu Düsseldorf, die ganze Nacht allein mit ihm. Wir haben es also mit einer literarischen Figur zwischen Thomas Manns Hochstapler Felix Krull und dem durch Stanley Kubricks Eyes wide shut wieder in Erinnerung gerufenen ungebetenen mittnächtlichen Festgast aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle zu tun. Mit dem kleinen Unterschied, dass der Schelm im Gedicht nicht um sich selbst und seine Demaskierung fürchtet, sondern um die Entehrung seine Tanzpartnerin, weil er als Galgenmann am Hofe eben fehl am Platz ist. Aber all sein Flehen darum, ungesehen das Fest zu verlassen, bleibt unerhört. Als um Mitternacht die Masken fallen, lässt sie ihn nicht gehen, weil sie, und da gibt Heine dem Geschehen eine mehr als unterschwellige erotische Note, sein Antlitz zu schauen "begehrt". Die schöne Herzogin will unbedingt dem Mann ins Gesicht sehen, der sie laut und beständig zum Lachen gebracht und so herrlich durch alle Tänze des Abends geführt hat, sie will die Maske von schwarzem Samt fallen sehen, hinter der gar freudig blicket/Ein Auge, wie ein blanker Dolch/Halb aus der Scheide gezücket. Als sie, weil er zu sehr Gentleman ist um ihr entschlossen entgegenzutreten, schließlich wild entschlossen zuletzt ihm mit Gewalt die Maske vom Kopf reisst, wird der Mann, auf diese Weise unfreiwillig decouvriert, sofort als Scharfrichter von Bergen erkannt, und es bleibt dem Kaiser/Herzog nur die Wahl, entweder seine Frau als entehrt anzusehen oder den Mann zu adeln, um ihr Gesicht zu wahren. Er schlägt ihn, natürlich auf höfische Etikette bedacht und um den Skandal zu vermeiden, zum Ritter. So ward der Henker ein Edelmann /Und Ahnherr der Schelme von Bergen /Ein stolzes Geschlecht! Es blühte am Rhein/Jetzt schläft es in steinernen Särgen. So endet Heine seine Ballade, und in der Tat, der letzte Vertreter der Ahnenlinie, der zu Heines Zeit noch am Leben war, der oben abgebildete Christian Ernst Schelm von Bergen, starb zwei Jahre vor der Datierung des Gedichts als pensionierter Hauptmann aus den napoleonischen Kriegen. Wie er nun mit Dorothea zu Schelm von Bergen genau verwandt war, hat mir Großmutter Emilie nie erklärt, nur dass die zwei blutroten Rippen, die das ansonsten makellos weiße Wappen von Bergen, meiner Heimatstadt, zieren, ihr stets aus verwandtschaftlicher Nähe sehr zu Herzen gegangen sind.


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